Warum Anrechnung wichtig ist

15. März 2022

Fragen an Ida Stamm, Institut für Innovation und Technik

Warum ist Anrechnung aus Ihrer Sicht wichtig?

U.a. in Hinblick auf das Thema Bildungsgerechtigkeit. Der Aspekt Bildungsgerechtigkeit wird in der Diskussion um Anrechnung leider viel zu wenig beachtet. Ist es denn nicht angemessen und gerecht, wenn Kompetenzen, Kenntnisse und Fertigkeiten (Lernergebnisse) von einem Qualifizierungspfad zum nächsten mitgenommen bzw. eingebracht werden können? Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass Gegenstand, Niveau, Umfang etc. stimmen. Aus meiner Sicht ist es ein Gebot der Fairness und bildungsökonomischen Notwendigkeit, diese Möglichkeit zu gewähren. So können nicht nur unnötige Wiederholungen von bereits Erlernten und die Verschwendung von Zeit- und Humanressourcen vermieden werden. Sondern es wird auch die Wertschätzung des formal, informell und non-formal Erlernten gegenüber der Person zum Ausdruck gebracht sowie eine Verwendung in einem anderen Bildungssektor ermöglicht.

Wie schätzen Sie den Stand der Umsetzung von Anrechnung in den Hochschulen ein?

Der Blick auf die deutsche Hochschullandschaft zeigt leider, dass die Berücksichtigung von Prior Learning aus dem Berufsbildungsbereich auch nach zwei Jahrzehnten Bologna-Prozess und nationalen Initiativen immer noch nicht in einem wünschenswerten Umfang in der Hochschulcommunity und -praxis angekommen ist. Es kann eigentlich nicht mehr sein, dass diejenigen, die an hochschulischer (Weiter)Bildung interessiert sind und die ihre bereits erworbenen Lernergebnisse und Kompetenzen für eine Qualifizierung an der Hochschule (Studium) einbringen möchten, dieses Recht an der Hochschule durch einen individuellen Anrechnungsantrag einfordern müssen.

Wenn man sieht, wieviel Unterstützung (bzw. Aufwand) das Anliegen „Anrechnung“ (und Anerkennung) erfahren hat und immer noch erfährt, dann stellt sich einem schon die Frage nach den Ursachen für die langsame Umsetzung an den deutschen Hochschulen.

Eine gelebte Anrechnungspraxis mag bisher an fehlenden Ressourcen und nachrangiger Priorität gescheitert zu sein, doch das ist – nach 20 Jahren Bologna-Prozess und nationalen Initiativen – keine hinreichende Erklärung mehr. Neben der Einrichtung entsprechender Strukturen und Verfahren muss die Hochschule und ihre Verwaltungspraxis auch an einem Kulturwandel arbeiten und dafür Sorge tragen, dass sich eine entsprechende Anrechnungskultur etabliert. Dazu gehört auch ein Perspektivenwechsel bei der Sicht auf die Studierenden und Studieninteressierten. Denn es ist nicht mehr zeitgemäß, die vielfältigen Bildungsbiographien der Studieninteressierten zu vernachlässigen und sich unwissend gegenüber nicht-hochschulischen Bildungswelten zu geben.

Welche Ressourcen und Voraussetzungen sind erforderlich, damit Anrechnung besser funktionieren und dadurch mehr Durchlässigkeit gefördert werden kann?

Anrechnung, als ein beförderndes Element von Durchlässigkeit, muss Teil der Hochschulpraxis und daher gelebte Hochschulkultur sein. Das wird es nur, wenn zwei Bewegungen zugleich erfolgen: top-down und bottom-up. Anrechnung muss daher ein Anliegen der Hochschulleitung und der Hochschulangehörigen sowie in der Umsetzung eines der Verwaltungspraxis sein. Ist dieses Verständnis geklärt und im Idealfall mittels moderiertem Willensbildungsprozess hergestellt, dann bedarf es für die Ausführung entsprechende Strukturen und Ressourcen, damit die Prozesse, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar geregelt und transparent sind. Es ist erforderlich, eine Anrechnungsordnung zu erlassen sowie entsprechendes Personal und Stellen für die Information, Beratung und Unterstützung von Anrechnungsinteressierten und Hochschulmitgliedern einzurichten. Die Verfahren für die Antragstellung und Äquivalenzfeststellung sowie die Dokumentation in den Modulbeschreibungen und Studienordnungen sind festzulegen, so dass ein transparentes, kohärentes und qualitätsgesichertes Anrechnungssystem etabliert werden kann. Dass eine Anrechnungskultur gelebt wird und Anrechnung gewollt ist, zeigt sich dann ganz konkret z.B. durch leicht auffindbare Informationen und Unterlagen auf der Hochschulwebsite und ihren Unterwebsites zu Studien- und Beratungsangeboten mit Bezug zu Anrechnung.

Ist Anrechnung die Dauerlösung oder eine Übergangslösung für bildungsbereichsübergreifende Bildungsbiographien?

Eine Bildungsbiographie im Sinne einer inklusiven Bildungsbiographie bedeutet, dass man von einem Bildungsbereich in einen anderen (Pfad) wechseln sowie die jeweils erworbenen Kompetenzen mitnehmen kann und entsprechend berücksichtigt werden.

Da die Lernergebnisse der verschiedenen Bildungssektoren (von der frühkindlichen Bildung bis zur lebensbegleitenden Weiterbildung im Erwachsenenalter) bislang nicht so aufbereitet und dokumentiert sind, dass diese problemlos in den jeweils anderen Bereich transferiert und damit genutzt werden könnten, sind Anrechnungsverfahren erforderlich. Diese sind bisher noch sehr aufwendig, um alle formal, informell und non-formal erworbene Kompetenzen, Qualifikationen sowie Fertigkeiten und Kenntnisse (= Lernergebnisse) zu identifizieren und für die Berücksichtigung in einem anderen Bildungssektor so nutzbar zu machen. Dies gilt vor allem für das individuelle Anrechnungsverfahren. Das Verfahren für die pauschale Anrechnung – einmal auf Abschlussebene geregelt – ist hingegen für alle weiteren Anrechnungsinteressierten nur noch eine Formsache.

Solange es kein durchlässigeres Bildungssystem gibt, das alle Lernphasen in unterschiedlichen Bildungssektoren und ihre Lernergebnisse vergleichbar aufbereitet und dokumentiert, bleibt Anrechnung eine aufwendige Behelfslösung.

Anrechnung könnte obsolet werden, wenn die Dokumentation der Curricula und Lernergebnisse aller Bildungssektoren bzw. -phasen mit dem Beschreibungssystem des deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) erfolgen würde. Denn dann wären die Ergebnisse der Lerneinheiten einheitlich beschrieben und damit vergleichbar gemacht, ihnen wäre ein entsprechendes Lernergebnisniveau (DQR-Stufe) und eine Anzahl von Lernaufwand (Credit Points, CP) zugeordnet, so dass ein Transfer von Gleichwertigem möglich wäre. Mit diesem Dokumentationssystem hätte man ein durchlässiges, inklusives, d.h. alle Bildungsphasen umfassendes Bildungssystem geschaffen.


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