Beidseitige Durchlässigkeit: Gemeinsam flexible Lernwege gestalten

Essen, 23. und 24. Mai 2023


Nachfolgend finden Sie die Dokumentation unserer Veranstaltung:


Konferenzbericht

Durchlässigkeit im Bildungssystem zielt darauf ab, Chancengleichheit sowie individuelles Lebenslanges Lernen zu ermöglichen. Dazu dient die Schaffung wechselseitiger Übergänge zwischen Bildungsbereichen, insbesondere zwischen der beruflichen und der hochschulischen Bildung. Über Bedingungen, Herausforderungen und mögliche Ansätze für beidseitige Durchlässigkeit tauschten sich rund 150 Interessierte und Expert:innen aus dem hochschulischen und dem beruflichen Sektor auf der zweitägigen Konferenz des HRK-Projekts MODUS am 23. und 24. Mai 2023 auf der Zeche Zollverein in Essen aus.

In unterschiedlichen Formaten diskutierten die Teilnehmenden den Status quo der Durchlässigkeit und notwendige Schritte für ihre Verbesserung. Ein besonderer Fokus lag auf der Anrechnung von Kompetenzen beim Übergang in den jeweils anderen Bildungsbereich. Tilman Dörr, Leiter des Bereichs Bildung der Hochschulrektorenkonferenz, betonte am ersten Tag in seiner Begrüßung, dass Anrechnung zur flexiblen Gestaltung von persönlichen Bildungsbiografien und zum Abbau von Barrieren zwischen Bildungsbereichen beitragen könne. Das bedeute jedoch nicht, „die Bildungsbereiche anzugleichen und Unterschiede zu nivellieren, sondern Übergänge zu erleichtern, Brücken zu bauen, Orientierung zu schaffen und Vergleichbarkeit herzustellen.“

In der anschließenden moderierten Gesprächsrunde „Flexible Übergänge gestalten: Was ist erforderlich und wie können Hochschulen und berufliche Bildung gemeinsam dazu beitragen?“ hob Prof. Dr. Gabriele Vierzigmann, Hochschule München, hervor, dass in den letzten Jahren im Rahmen verschiedener Projekte bereits das nötige Grundlagenwissen über durchlässige Bildungswege geschaffen worden sei. Nun müsse die institutionsübergreifende und nachhaltige Zusammenarbeit gefördert werden. Die Beteiligten ständen jetzt vor der Frage, „wie diese Wissensbasis auch wirklich verfügbar und anschlussfähig zwischen den Bildungsinstitutionen, -systemen und -segmenten sowie auch den Hochschulen gemacht werden kann.“ Laut Tilman Dörr fungieren diese Projekte im Bereich Durchlässigkeit als wichtige Impulsgeber, die Möglichkeiten würden aber noch nicht ganz ausgenutzt. Darüber hinaus beständen weiterhin rechtliche Hürden, zum Beispiel hinsichtlich unterschiedlicher Finanzierungslogiken der wissenschaftlichen Weiterbildung und des grundständigen Studiums.

„Durchlässigkeit ist keine Einbahnstraße“

Für Dr. Barbara Dorn von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bestehen aktuell vor allem kommunikativ-soziale Hürden zwischen der beruflichen und der hochschulischen Bildung; gegenseitiges Verständnis müsse weiterhin geschaffen werden und dabei auch die Individualität der beruflichen Bildung respektiert werden. Dagmar Ludzay vom Bundesministerium für Bildung und Forschung plädierte für die stärkere Beachtung der beruflichen Bildung in der Thematik: „Durchlässigkeit ist keine Einbahnstraße, es muss in beide Richtungen gehen können.“ Für dauerhafte Veränderungen bräuchten die Akteur:innen die Unterstützung der Länder; der Bund könne lediglich Impulse geben.

Bei der Schaffung flexibler und gerechter Bildungswege müssen laut Katja Urbatsch von Arbeiterkind.de Eigeninteressen der Bildungsbereiche zurückgestellt werden. Junge Menschen sollten entsprechend ihrer Motivationen, Fähigkeiten und Potenziale beraten und ermutigt werden, durchlässige Wege, die es bereits gibt, zu beschreiten. Um junge Menschen schon früh und nachhaltig bei der Entscheidung für den für sie richtigen Bildungsweg zu unterstützen, schlägt Dominik Kubon vom Studentischen Akkreditierungspool den stärkeren Ausbau von Orientierungssemestern vor. Auf diese Weise könnten sie mehrere Bildungsbereiche kennenlernen und bewusstere Entscheidungen für ihre persönlichen Bildungswege treffen.

Veränderung durch Nachahmung, statt durch Zwang

In ihrer Keynote „Durchlässigkeit aus Hochschulsicht: Wie kommen wir (endlich) einen Schritt weiter?“ beleuchtete Prof. Dr. Annika Maschwitz von der Hochschule Bremen insbesondere hochschulische Durchlässigkeitsbestrebungen und ihre Hürden aus organisationstheoretischer Perspektive. Laut Maschwitz sind flexible Studienformate und Studiengangsgestaltungen noch immer ausbaufähig; Anrechnung von außercurricularen Kompetenzen erfolge in geringem Maße, was beispielsweise mit einer vorherrschenden Misstrauens- statt Vertrauenskultur gegenüber außercurricular erworbenen Kompetenzen zu tun habe. Zudem werde Durchlässigkeit auf der Ebene der Organisationsstruktur einer Hochschule beispielsweise durch die „Polarität zwischen Wissenschaft und Verwaltung“, also den unterschiedlichen Kulturen innerhalb dieser Bereiche, erschwert. Insbesondere private Hochschulen zeigten sich anrechnungsfreudiger und hätten erkannt, dass viele Studierende flexible Studienmodelle benötigten. „Die öffentlichen Hochschulen sollten sich fragen: Was können wir Studierenden für solch unterschiedliche Bedürfnisse anbieten?“, so Maschwitz. Veränderungen in Richtung Durchlässigkeit sollten aus ihrer Sicht vor allem mimetisch, also durch Nachahmung passieren, statt erzwungen zu werden: „Es gibt private und auch andere Hochschulen, die bereits vorleben, wie es gehen könnte.“

Im anschließenden World-Café bot sich den Teilnehmenden die Gelegenheit, in Kleingruppen ihre Erfahrungen zu teilen und sich eng über spezifische thematische Aspekte im Kontext Durchlässigkeit auszutauschen; hierzu gehörten etwa die Themen „Kompetenzen als Basis für die hochschulische und berufliche Bildung“ oder „Gemeinsame Angebote in der Orientierungsphase“.

Der erste Konferenztag schloss inhaltlich mit einer Keynote von Prof. Dr. Niclas Schaper, Universität Paderborn, ab. Er ging der Frage nach, wieso Bildung Kompetenzorientierung brauche, und bot einen Überblick über die Entwicklung des Kompetenzbegriffs in der hochschulischen und beruflichen Bildung. Die berufliche Bildung orientiere sich seit den 1980er-Jahren zunehmend am Begriff der beruflichen Handlungskompetenz, um von einem rein fertigkeitsorientierten Denken wegzukommen. In der hochschulischen Bildung gehe es nach wie vor stark um fachbezogenen Wissenserwerb, doch die Vorbereitung auf berufliche Handlungsfelder sei zunehmend wichtiger geworden. Spätestens seit der Bologna-Reform vermischten sich berufliche und hochschulische Bildung und deren Bezugssysteme zunehmend: „Es findet eine lerntheoretisch und didaktisch begründete Annäherung der beiden Bereiche statt.“, so Schaper. Die Handlungsbefähigung, die in beiden Bildungsbereichen im Vordergrund der kompetenzorientierten Didaktik stehe, biete das Potenzial zur Verknüpfung der hochschulischen und beruflichen Bildung. Präzise formulierte Learning Outcomes könnten diese Verknüpfungen und durchlässigere Übergänge unterstützen.

Eine gemeinsame Sprache

Am zweiten Konferenztag erhielten die Teilnehmenden vertiefte Einblicke in unterschiedliche Projekte, die Durchlässigkeit bereits aktiv fördern, und diskutierten die Frage, wie Erfahrungswerte insbesondere für beidseitig durchlässige Bildung genutzt werden können. In der ersten Forenphase lagen die thematischen Schwerpunkte auf der Gestaltung flexibler wissenschaftlicher und beruflicher Weiterbildung sowie auf Ansätzen zur reziproken Anrechnung von Kompetenzen, beispielsweise für Studienaussteiger:innen. Darüber hinaus beschäftigten sich die Teilnehmenden in einem Workshop unter der Leitung von Dr. Birgit Szczyrba, Technische Hochschule Köln, interaktiv mit Lernergebnisformulierungen mithilfe von Kompetenzorientierung als „gemeinsame Sprache“.

Im Zentrum der zweiten Forenphase lagen fachspezifische Perspektiven aus dem gesundheitlichen und technischen Bildungsbereich sowie der Sozialen Arbeit. Die Referent:innen aus Hochschulen und Berufsbildung zeigten anschaulich, wie junge Menschen in der Berufsorientierungsphase sowie Berufstätige bei persönlicher Weiterqualifizierung unterstützt werden können und Anrechenbarkeit von Kompetenzen in der Konzipierung von Bildungsangeboten mitgedacht werden kann.

Den Abschluss der Konferenz bildete eine Fishbowl-Diskussionsrunde, in der die Teilnehmenden und Personen aus dem Publikum mögliche Schritte in Richtung beidseitiger Durchlässigkeit in den Blick nahmen. Prof. Dr. Hubert Ertl vom Bundesinstitut für Berufsbildung wies auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache und geteilter Denkweisen der beruflichen und akademischen Bildung als Voraussetzung für ein durchlässiges Bildungssystem hin: „Wir müssen Vertrauen schaffen und uns auf eine gemeinsame Denke einlassen.“, so Ertl. Die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache sah Prof. Dr. Ursula Walkenhorst von der Universität Osnabrück ebenfalls als wichtigsten nächsten Schritt an. Fehlende Kommunikation und ungeklärte Zuständigkeiten seien ein Hindernis für Bildungsübergänge. Daher sei ein erster Ansatz, weiter miteinander ins Gespräch zu gehen.

Julia Flasdick, Deutsche Industrie- und Handelskammer, machte deutlich, dass beide Bildungsbereiche Learnings aus vorherigen Entwicklungen berücksichtigen sollten. Hierfür könne eine breit angelegte Evaluation zu Durchlässigkeitsfortschritten und -bestrebungen hilfreich sein. Prof. Dr. Frank Ziegele vom Centrum für Hochschulentwicklung plädierte für ein Bildungssystem, in dem die Bildungsbereiche bei ihren Stärken blieben, ihr Zusammenwirken aber deutlicher forciert werde. Eine Möglichkeit sei beispielsweise, innerhalb betrieblicher Weiterbildungen ein Modul an einer HAW einzubinden und so die Berufs- und Hochschulbildung zu verzahnen.

„Jetzt müssen wir anfangen“

Aus Sicht von Kurt Neubert, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, liege es an der Politik, erfolgreiche Projekte im Bereich der Durchlässigkeitsförderung zu verstetigen und so die Entstehung von Insellösungen zu vermeiden. Darüber hinaus könne der weitere Einsatz von Kompetenzportfolios und sogenannten Wallets Individuen wieder stärker in den Fokus der Diskussion rücken und zu einer Sichtbarkeit ihrer Kompetenzen beitragen. Zum Ende der Konferenz resümierte Moderator Dr. Jan-Martin Wiarda, dass die Abschlussdiskussion und die gesamte Veranstaltung gezeigt hätten, dass viel guter Wille zu mehr Durchlässigkeit vorhanden sei, die Beteiligten sich aber noch stärker vernetzen könnten: „Zukunftsszenarien gibt es genug. Jetzt müssen wir anfangen.“




Präsentationen


NEWCOMER-WORKSHOP ZUR ANRECHNUNG
Louisa Langenkämper und Mina Wiese, Projekt MODUS
 

KEYNOTES

Durchlässigkeit aus Hochschulsicht: Wie kommen wir (endlich) einen Schritt weiter?
Prof. Dr. Annika Maschwitz, Hochschule Bremen

Wieso braucht Bildung Kompetenzorientierung? Ein Überblick über Konzepte der Kompetenzerfassung und -entwicklung in der beruflichen und hochschulischen Bildung
Prof. Dr. Niclas Schaper, Universität Paderborn
 

FOREN

A. Weiterbildung flexibel gestalten
Flexible Formate der wissenschaftlichen Weiterbildung an einer HAW
Anna Bergstermann, Frankfurt University of Applied Sciences

Flexible Formate in der beruflichen Weiterbildung aus europäischer Perspektive: Microcredentials im Fokus
Helena Sabbagh, Bundesinstitut für Berufsbildung

Einführung und Moderation
Dr. Franziska Sweers, Philipps-Universität Marburg

Die in Forum A thematisierte Publikation „Qualitätssicherung von Zertifikatsangeboten in der hochschulischen Weiterbildung. Empfehlungen für die Hochschulen“ des Instituts für Innovation und Technik (iit) finden Sie hier.

B. Wechselseitige Durchlässigkeit und Anrechnung fördern
Die Spurwechsler - ein Praxisbeispiel der beruflichen Bildung aus Bayern
Hubert Schöffmann, Bayerische Industrie- und Handelskammer

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes Reziproke Anrechnung
Prof. Dr. Heiko Burchert, Hochschule Bielefeld

Einführung und Moderation
Julia Flasdick, Deutsche Industrie- und Handelskammer

C. Workshop
Eine gemeinsame Sprache: Kompetenzen abbilden durch Lernergebnisformulierung
Dr. Birgit Szczyrba, Technische Hochschule Köln

D. Medizin und Gesundheit
Zertifikatsprogramme im Bereich Gesundheit: Das Verbundprojekt KeGL
Prof. Dr. Andrea Braun von Reinersdorff, Hochschule Osnabrück
Anja Gieseking, Niels Stensen Bildungszentrum

Einführung und Moderation
Prof. Dr. Ursula Walkenhorst, Universität Osnabrück

E. Soziale Arbeit
Studium oder Ausbildung? DASDORIS! Darmstädter Orientierungsjahr für soziale Berufe
Prof. Dr. Yvonne Haffner, Hochschule Darmstadt

Anrechnung außerhochschulischer Kompetenzen: Entwicklungsprojekt AnKoSa
Tom Weidenfelder, Katholische Hochschule Freiburg

F. Technik
Bundeslandübergreifende anrechenbare Bildungsangebote im Bereich Elektromobilität: Das Projekt BexElektro
Dr. Josephine Charlotte Hofmann, Fraunhofer IAO (Universität Stuttgart)
Dr. Jürgen Jarosch, Elektro Technologie Zentrum (etz) der Innung für Elektro- und Informationstechnik Stuttgart


Programm

Kontakt

Inhalt:

Louisa Langenkämper
langenkaemper(at)hrk.de
+49 228 887 204

Mina Wiese
wiese(at)hrk.de
+49 228 887 201

Organisation:

Barbara Kleinheidt
kleinheidt(at)hrk.de
+49 228 887 106

Jens Marquardt
marquardt(at)hrk.de
+49 228 887 108

Zum Seitenanfang